Die heutige Welt ist von ständigen Veränderungen geprägt. Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) erschweren und behindern das Erkennen von einfachen Ursache-Wirkung-Beziehungen. Entscheide – vor allem jene strategischer Natur – verkommen zur Lotterie, weil man sich scheinbar auf nichts mehr verlassen kann. Welche Möglichkeiten gibt es, um sich dennoch zurechtzufinden und die Reise durch diese VUCA-Welt nicht im völligen Blindflug antreten zu müssen? Im Rahmen des alljährlich stattfindenden B’VM-Fachgesprächs haben wir einen Workshop durchgeführt und uns mit genau dieser Frage auseinandergesetzt.
Agile Strategieentwicklung
Die Autor:innen des Buchs «Strategility – Agile Strategieentwicklung»[1] beschreiben einen Ansatz, mit dessen Hilfe strategische Entscheide auch in der VUCA-Welt weiterhin möglich sind, und welcher dabei einer stringenten Systematik folgt. Im Zentrum des dort beschriebenen agilen Strategieprozesses steht ein kontinuierlicher Informations- und Erkenntnisfluss zwischen den drei simultanen Hauptaktivitäten Strategieausrichtung, Strategieentwicklung und Strategieumsetzung. Erkenntnisse zu Ergebnissen und Wirkungen fliessen in die vorgelagerten Prozessschritte, damit bleiben bereits getroffene Entscheidungen flexibel für Veränderungen.
Bild: Pichel, K. Haas, Th.; Kruschitz, B. (2022): Strategility – Agile Strategieentwicklung: Prozess und Rollen, Tools und Anwendungsbeispiele, Schäffer-Pöschel, Stuttgart, Seite 15
Der Strategility-Ansatz kombiniert somit die Paradigmen des strategischen Managements und der Agilität:
- Das strategische Management basiert auf Analysen, setzt auf rationale Entscheidungen, unterscheidet zwischen Strategieentwicklung und -umsetzung und teilt die jeweilige Verantwortung für diese beiden Elemente dem Vorstand resp. der Geschäftsstelle zu.
- Agilität hingegen basiert auf der inkrementellen Erkenntnisgewinnung (d.h. Erkenntnisgewinnung in kleinen Schritten), dem kontinuierlichen Lernen während der Umsetzung (learning by doing) und verlässt sich auf weitgehend selbständig arbeitende Teams (Selbstorganisation).
In unserem Workshop konzentrierten wir uns v.a. auf die erwähnte Hauptaktivität der Strategieentwicklung. Für die agile Strategieentwicklung kommen die folgenden fünf Prinzipien zur Anwendung:
- Alignment: Ausrichtung an strategischen Herausforderungen, einer strategischen Stossrichtung und einem Leitbild.
- Evidenz: Explizitmachen strategischer Annahmen und Validierung der Wirksamkeit einer Strategie. So können Entscheide gewissenhaft auf Basis von zusammengetragenen Informationen getroffen werden.
- Iteration: Ein Prozess, der Erkenntnisgewinnung und Entscheidung mehrmals durchläuft, d. h. Erkenntnisse werden bewusst geschaffen und laufend berücksichtigt.
- Kollaboration: Knowhow- und Entscheidungs-Tragende entwickeln gemeinsam Entscheidungsgrundlagen.
- Autonomie: Entscheidungsfreiheiten in definierten Leitplanken für die Personen, die Hypothesen und Test vorantreiben.
Annahmen, Hypothesen und Tests
Ein besonders wertvoller Kniff für die Strategiearbeit scheint uns die Durchführung von empirischen Tests zu sein. Hierbei werden die kritischen Annahmen, auf denen ein bestimmter Strategievorschlag beruht, getestet bevor die Strategie tatsächlich umgesetzt wird. Teure strategische Pläne – in unserem Workshop war es die Schaffung eines neuen Weiterbildungsangebots für Mitglieder – werden erst realisiert, wenn Gewissheit besteht, dass sie funktionieren.
Der empirische Test im Beispiel des Weiterbildungsangebots würde etwa darin bestehen, zuerst einen Pilotversuch durchzuführen: In einer bestimmten Region wird ein neuer Weiterbildungsinhalt resp. eine neues -format angeboten, um zu schauen, ob dafür tatsächlich eine Nachfrage besteht.
Nebst Pilotversuchen können auch Methoden wie «fake door testing» oder «mechanical turk» angewendet werden. Im ersten Fall wird ein Angebot angepriesen, das es in Wahrheit noch gar nicht gibt (was allerdings bei Auflösung zu Enttäuschungen führen wird). Im zweiten Fall wird eine voll-digitalisierte Lösung «vorgetäuscht», welche in auf manuellen Prozessen basiert (eine Online-Buchungsplattform ist nur oberflächig digital, dahinter müssen aber Mitarbeitende einzelne Arbeitsschritte von Hand vornehmen).
In allen diesen Beispielen besteht die Absicht darin, in kleinen Schritten vorzugehen und erst dann viel Zeit und Geld für den Aufbau eines neuen Angebots (für die Umsetzung einer neuen Strategie) zu investieren, wenn das Risiko eines Scheiterns praktisch ausgeschlossen werden kann.
Erkenntnis: Besser entscheiden ist lernbar
Komplexe Fragestellungen können in Form einer Hypothese formuliert werden (Aussagen wie: wenn…, dann… / je…, desto…). Diese Hypothesen werden mit Experimenten überprüft. Dieses Vorgehen sichert folgende Vorteile:
- Es gibt eine Verlagerung weg von der Vermutung hin zu einer fundierten Entscheidung.
- Gewagte Ideen oder Innovationsvorschläge können mit geringerem Risiko kosteneffizient getestet und weiterentwickelt werden.
- Das Wachstum erfolgt schrittweise und messbar.
- Die Arbeit erfolgt mit einer hohen Kundenorientierung.
- Ein bestehender Tunnelblick wird aufgebrochen.
- Erkenntnisse fliessen früh ein, wodurch die Weiterentwicklung an Effektivität gewinnt.
- Es etabliert sich eine Lernkultur und durch die Dokumentation des Experimentendesigns und der gewonnenen Erkenntnisse eine Wissenssicherung.
[1] Pichel, K. Haas, Th.; Kruschitz, B. (2022): Strategility – Agile Strategieentwicklung: Prozess und Rollen, Tools und Anwendungsbeispiele, Schäffer-Pöschel, Stuttgart